Dušo MARTINČOK: Der Garten (gekürzt)

(Kurzgeschichte aus der Sammlung Niekto sa nájde, Zrejme, Bratislava 2022)

 

Das weiße Laken, das über das Glasgeländer hing, wurde von einem Windstoß erfasst. Es erhob sich in die Lüfte und schwebte dann über der Straße wie ein Rochen. Der Sinkflug dauerte überraschend lange, einen Moment schien das Laken an einer Straßenlaterne hängen bleiben zu wollen. Schließlich landete es im Vorgarten auf der mit Kletterrosen bewachsenen Metallpergola. Die Frau mit dem Strohhut hielt sich zum Schutz vor der Junisonne die Hand über die Augen und schaute nach oben. Oliver ging rasch in Deckung, doch er ahnte, dass sie ihn gesehen hatte. Langsam beugte er sich wieder über das Geländer nach vorn. Eine Hand in einem orangen Gartenhandschuh winkte ihn nach unten.

Er hatte nicht die geringste Lust hinunterzugehen. Aber die Frau wusste ja, dass es sein Laken war. Also atmete er tief durch und machte sich auf den Weg.

 

In dem Haus in der Kalinova ulica wohnten er und sein Vater seit einem Monat. Die frisch fertiggestellte Maisonette-Wohnung ganz oben hatten sie gekauft, als sie noch in England gewohnt hatten. Das alte Mietshaus in der Innenstadt, ein beigebrauner Kasten, von dem der Putz bröckelte, hatte vier Stockwerke. Das fünfte und sechste bildete ein moderner grauer Aufsatz, der nur etwas mehr als die Hälfte der Dachfläche einnahm, was dem Haus ein seltsam L-förmiges Aussehen verlieh, wobei der untere Balken ausgesprochen dick ausfiel. Der Kontrast zwischen dem ungepflegten Fünfzigerjahrebau und dem luxuriösen Aufsatz war optisch eine Zumutung. Die Harmonie der gleichmäßigen Abstände zwischen den alten quadratischen Fenstern wurde in den beiden Obergeschossen durch die schwarzen länglichen Fensterrahmen brachial konterkariert, die ohne Rücksicht auf die Fassadensymmetrie des Bestandsgebäudes eingesetzt worden waren. Der Aufsatz wirkte wie ein seltsamer Parasit, der sich an seinem altersschwachen, wehrlosen Wirt festgesetzt hatte.

 

Am Tag ihres Einzugs war Oliver zum ersten Mal der Frau begegnet, die sich um den Garten vorm Haus kümmerte. Auf beiden Seiten des Wegs, der zur großen, mittig gelegenen Eingangstür aus Metall führte, lag je eine weitläufige rechteckige Parzelle. Dort ragten hinter frisch geschnittenen Hecken wild durcheinander Pflanzen unterschiedlichster Größe und in allen Farben auf, als ob sie neugierig wären, wer gerade vorbeikam. Der Garten machte den Eindruck, als würde jemand mit aller Kraft versuchen, in ihm ein halbwegs überschaubares System aufrechtzuerhalten, doch die Natur in ihrer Spontaneität schien dieses Bemühen immer wieder zu vereiteln.

Die ältere Frau hatte vor einem Beet mit verblühten Narzissen gekauert, an den Händen erdverkrustete Gartenhandschuhe. Als Oliver und sein Vater vorbeigingen, hob sie den Kopf und lächelte. Der Vater grüßte sie nicht, er schaute nicht einmal in ihre Richtung. Oliver senkte den Blick.

 

Vom ersten Tag an nahm Oliver fast immer die Treppe. Er hätte auch mit dem Aufzug fahren können, der vom Erdgeschoss bis in den Dachaufbau führte und den nur er und sein Vater benutzten. Aufzugtüren gab es zwar auch in den anderen Etagen, aber einen Chip, um den Lift in Gang zu setzen, hatte außer ihnen beiden niemand. Oliver hatte seinen am Schlüsselbund, aber viel mehr als der Fahrstuhl, dessen Türen sich per Bewegungsmelder öffneten, reizte ihn das heruntergekommene Treppenhaus, das in jedem Stockwerk sein Aussehen änderte.

Gern stieg er langsam die Steinstufen hinauf, wobei er die Finger über die rissige Ölfarbe an der Wand gleiten ließ. Im Erdgeschoss war unter dem Anstrich ein Hohlraum entstanden, der grünliche Panzer war teilweise abgebröckelt und in der Wand war ein kleiner Krater entstanden. Oliver polkte beim Hinaufsteigen jedes Mal ein kleines Stückchen ab. Das Loch wurde immer größer, inzwischen passten schon drei seiner Finger hinein. Er wusste, dass er das nicht tun sollte, das Treppenhaus wirkte auch so schon schäbig und schmuddelig, aber er konnte dem Drang nicht widerstehen.

Zwischen dem zweiten und dritten Stock wechselte die Farbe des Anstrichs von Grün zu Gelb. Genau dort hatte Oliver seinen Lieblingsplatz, er nannte ihn Sanatorium. An den sich gegenüberliegenden Wänden entlang waren Halterungen befestigt, wo im Lauf der Zeit Dutzende von Zimmerpflanzen ihren Platz gefunden hatten, die in den unterschiedlichsten Blumentöpfen steckten: aus Ton mit grauen Schimmelflecken am Rand, aus Plastik in allen möglichen Farben und Formen. Ein paar Pflanzen ragten aus Emailletöpfen oder Joghurtbechern, es gab auch winzige Ableger, deren Wurzeln in Einmachgläsern voll mit grünlichem Wasser hingen. Jedes Mal nahm Oliver ein vertrocknetes Geranienblatt in die Hand und zerbröselte es zwischen den Fingern. Er atmete den schweren Duft ein – der ihn an die Hautcreme seiner Mutter erinnerte.

Die hatte er in letzter Zeit nur per Kamera gesehen. Sie war in Cambridge geblieben, wo sie noch ihre Promotion abschloss. Davor hatten sie alle drei mehrere Jahre dort gelebt, aber sein Vater musste wegen seines Jobs zurück in die Slowakei. Und es fiel die Entscheidung, dass Oliver mit ihm mitkommen würde, um sich schon einmal einzuleben und ab dem neuen Schuljahr dann eine slowakische Schule zu besuchen. In England war er schon zwei Jahre zur Schule gegangen, trotzdem hatten sie ihn hier in Bratislava in der zweiten Klasse angemeldet, weil er erst sieben Jahre alt war.

Oliver gefiel die neue Situation ganz und gar nicht, er hatte sich an England gewöhnt, am liebsten wäre er für immer dort geblieben. Außerdem konnte er sich nicht vorstellen, wie er bis September ohne seine Mutter leben sollte. Sie war seine Verbündete, in Vielem ähnelten sie einander. Beide liebten sie Filme und Bücher und schrieben ständig irgendwas mit Füllfedern in Notizbücher, während Olivers Vater das genaue Gegenteil war – pausenlos vom Bildschirm seines Rechners angestrahlt. „Ach, meine zwei Analogbirnen“, sagte er immer mit einem Lachen, wenn er an seinem Laptop mit dem leuchtenden Apfel saß.

 

Im Sanatorium las Oliver gern. Das konnte er schon, seit er vier war. Einige seiner Lieblingsbücher hatte er sich aufs Tablet geladen, am liebsten las er aber die aus Papier, vor allem Die Drei Musketiere, die alte Ausgabe, die schon seit Generationen im Familienbesitz seiner Mutter war. Darin gab es schwarzweiße Illustrationen, die bis ins letzte Detail durchgearbeitet waren. Auf dem raschelnden vergilbten Papier wirkten sie viel schöner als auf einem Display.

Auf dem Treppenabsatz war es angenehm kühl und es gab dort gutes Licht. Umgeben von Geranien, Begonien und Ficusbäumchen fühlte er sich wie im Wintergarten eines aristokratischen Anwesens. Irgendjemand hatte eine alte Bank aus dunklem Holz hier abgestellt.

Oft bekam er mit, wie die Nachbarn über sie die Nase rümpften – im Haus war man nämlich allergisch darauf, wenn jemand nicht mehr benötigte Dinge in den Gemeinschaftsbereichen abstellte. An der Haustür hingen dann nicht unterschriebene Aufforderungen, die Leute mögen ihre Sachen nicht im Treppenhaus auftürmen und die Bank sowie andere abgestellte Gegenstände entfernen. Immer tauchten dort Begriffe wie unverzüglich, Hausordnung oder entrümpeln auf und mindestens fünf Ausrufezeichen. Aber es funktionierte nie, die Nachbarn gewöhnten sich allmählich an den Krempel und nahmen ihn nicht mehr wahr. Die Bank zwischen dem zweiten und dritten Stock wurde so zu einem festen Bestandteil des Treppenhauses, genau wie Oliver, der stundenlang dort saß. Alle, die vorbeikamen, wussten, dass der Junge mit dem dunklen welligen Haar zu der reichen Familie gehörte, die vor Kurzem in den Dachaufbau eingezogen war. Sie fragten ihn nichts, meist grüßten sie auch nicht zurück. Oliver kannte in der Slowakei niemanden außer seiner Großmutter und seinem Vater, er war auf gewisse Weise froh, Teil dieser stummen Gemeinschaft der Hausbewohner geworden zu sein. Sie zeigten zwar kein Interesse an ihm, aber er kannte wenigstens ihre Gesichter und hatte das Gefühl, irgendwie dazuzugehören. […]

 

Olivers Vater konnte es nicht leiden, wie sein Sohn im Treppenhaus vor sich hindümpelte. „Wir haben eine Zweihundert-Quadratmeter-Wohnung und du hängst da in diesem stinkigen Hausflur rum und liest? Die Leute denken noch, dass ich dich daheim schlage.“

Oliver tat sich schwer damit, zu erklären, dass er mit der neuen Wohnung fremdelte. Laut dem Innenarchitekten war es gut, wenn in einem Raum nicht allzu viele Möbel, Teppiche und Vorhänge waren. Die Einrichtung sollte minimalistisch sein, damit man seine eigenen Gefühle besser wahrnahm und nicht dauernd von äußeren Einflüssen abgelenkt war. Also dominierten kahle Wände, es gab keine Pflanzen, alles war grau, weiß oder schwarz. Das deprimierte Oliver. Er liebte satte Farben, schöne drapierte Stoffe und Formenreichtum. In dem Dachaufbau gab es nur rechte Winkel und unter den Füßen glatten Beton.

Seinem Vater war das egal, er hatte viel Geld und wenig Zeit, er wollte alles schlüsselfertig haben. Unablässig war er in Bewegung, andauernd tat er irgendetwas. Gegen Abend machte er Workout auf der weitläufigen Terrasse, seinem Lieblingsplatz in der ganzen Wohnung. Er verbrachte seine Zeit dort immer, wenn er aus dem Büro zurück war, ein nicht wegzudenkendes Ritual.

Und während er auf der Hantelbank keuchte, las Oliver in einer Ecke der Terrasse, in seinem Unterschlupf, den er sich aus alten Laken baute. Er hängte sie übers Geländer und eins benutzte er als Dach. Das Ganze stabilisierte er geschickt mit einem System aus Wäscheklammern. […]

 

Das weiße Laken, das über das Glasgeländer hing, wurde von einem Windstoß erfasst. Es landete auf den Kletterrosen im Vorgarten. Oliver ärgerte sich, dass er es nicht besser fixiert hatte. Es war windstill gewesen und er hatte so schnell wie möglich sein Buch weiterlesen wollen, deswegen hatte er dem Budenbau nicht die übliche Aufmerksamkeit gewidmet.

Er lief die Treppe hinunter, im Erdgeschoss polkte er gedankenverloren ein Stück Farbe von der Wand. Draußen vorm Haus öffnete er das blau gestrichene Gartentor aus Holz, das in die niedrige Hecke eingefügt war. Sein Laken erwartete ihn bereits zusammengelegt auf einem kleinen Gartentisch. Die Frau mit dem Strohhut und den orangen Handschuhen stand mit dem Rücken zu ihm, sie stütze sich auf eine Feldhacke und blickte in die Krone eines Baumes am Rand der Parzelle.

„Das wird eine Amsel sein, hörst du’s?“

Außer den Autos von der nahegelegenen lauten Straße hörte Oliver nichts. Aber als er sich neben die Frau stellte, nahm auch er nach einer Weile das Vogelgezwitscher wahr.

„Willkommen in meinem Garten, du bist Oliver, stimmt’s?“

Er war überrascht, dass sie seinen Namen wusste. Vermutlich hatte sie ihn aufgeschnappt, als er und sein Vater einmal hier vorbeigegangen waren.

„Emília Marusínová“, sagte sie, zog einen Handschuh aus und reichte dem Jungen die Hand. „Wir können uns duzen.“

„In England duzen sich alle, ich kenn das gar nicht anders. Wir haben vorher dort gewohnt, ich bin dort auch in die Schule gegangen, da hatten wir Schuluniformen.“

Oliver schaute sich auf dem grünen Fleckchen um. „Und das ist alles echt dein Garten? Du kannst hier machen, was du willst?“

„Nicht so ganz“, lächelte Emília. „Der Vorgarten gehört allen, die hier wohnen, aber ich bin die Einzige, die sich um ihn kümmert. Also ist es im Prinzip meiner.“

Er hatte sie schon oft in dem Garten gesehen, aber erst heute sah er ihr auch ins Gesicht. Sie trug eine Brille mit breitem Rahmen, von dem zu beiden Seiten eine Brillenkette herabhing; die starken Gläser vergrößerten ihre wässrigen hellblauen Augen. Dazu ein T-Shirt mit PEPSI-Aufdruck und bequeme weite Jeans. Sie war klein, kaum einen Kopf größer als er.

Oliver nahm sich das säuberlich gefaltete Laken, bedankte sich und machte sich auf den Heimweg.

„Falls dir zu Hause langweilig sein sollte, dann komm mich mal besuchen“, sagte Emília zum Abschied. […]

 

Sie schufen sich ihr Sommerritual. Oliver aß das Frühstück, das sein Vater ihm hinstellte, bevor er ins Büro ging, dann zog er Badehose, T-Shirt und Basecap über und stieg hinunter in den Garten. Emília hatte ihm direkt an der Hecke eine Stelle reserviert, wo er sich eine noch bessere Bude bauen konnte, als er sie oben auf der Terrasse hatte. Sie spannten eine Schnur zwischen Blaufichte und Kastanie und klammerten alte Vorhänge daran fest, deren untere Enden Emília mit Heringen von einem alten Zelt im Boden fixierte. Zwischen die Seitenwände legten sie zwei Luftmatratzen, die nach Gummi und Salz rochen. Emília hatte sie im Keller gefunden, sie hatte sie immer mit nach Bulgarien genommen, als ihr Mann noch lebte. […]

Ein Tag folgte auf den anderen in angenehmer Eintönigkeit. Emília buddelte in der Erde, sprühte, pflanzte um, schnitt und goss. Oliver las in seiner Bude, in seltenen Fällen half er ihr auch. Wenn es zu warm war, sprang er in seiner Badehose unter seinen Vorhängen heraus, tanzte herum und rief mit ausgedachten Beschwörungsformeln Regen herbei. Diese Sprüche wiederholte er so lange, bis Emília den Schlauch auf ihn richtete, den Daumen gegen die Düse gepresst. Das Wasser erzeugte in der grellen Sommersonne bunte Schleier zur grenzenlosen Freude des Jungen, der vor Verzückung schrie. Die unerträgliche Hitze auf der Haut wich einer erfrischenden Kühle. Er spürte, wie er sich komplett öffnete, sich lockerte, als wäre er auf einmal in absoluter Sicherheit. Das war das größte Glück, das er sich vorstellen konnte. […]

Zum Mittagessen gingen beide jeweils zu sich nach Hause. Oliver schob sich eine Salamipizza in die Mikrowelle, Emília machte sich Essen warm, das sie sich immer vier Tage im Voraus kochte. Olivers Vater war froh, dass er seinen Sohn nicht allein zu Hause lassen und sich auch nicht um ein Kindermädchen kümmern oder seine Mutter beknien musste. Er dachte sogar darüber nach, Emília Geld anzubieten, kam dann aber er zu dem Schluss, dass auch sie etwas davon hatte, immerhin war sie in Gesellschaft und musste nicht den ganzen Tag fernsehen und stricken. Er nannte das eine win win situation.

 

Am Freitagabend oder am Wochenende durfte Oliver zu Emília Filme gucken gehen. Fast ausnahmslos schauten sie einen Sender, auf dem in Dauerschleife Hollywoodschinken in Schwarz-Weiß liefen. Am begeistertsten waren sie von Queen Christina. Oliver machte es sich in dem wuchtigen Ohrensessel bequem, während Emília im Schaukelstuhl kleine Äpfel vom Markt in der Žilinská ulica viertelte und jedes zweite Stück ihm reichte. Nahaufnahmen von Greta Garbos Gesicht warfen ein flackerndes Licht in das dunkle Wohnzimmer. Alle beide ließen sie sich immer wieder von der Geschichte der Herrscherin mitreißen, die auf den Thron verzichtet, weil sie unabhängig sein will. Einige Filmdialoge kannten sie schon auswendig.

But, Your Majesty, you cannot die an old maid!“, deklamierte, bevor er nach Hause ging, Oliver, worauf Emília mit geheimnisvollem Lächeln antwortete: „I have no intention to, Chancellor. I shall die a bachelor.

 

Gern schaute Oliver zu, wie sich Emília zurechtmachte. Sie benutzte lediglich Lippenstift und Puder, und immer hatte sie perfekt lackierte Fingernägel. Er liebte den Geruch von Azeton, der sich in der Küche ausbreitete. Einmal legte er seine Hand auf den Tisch, genau ihrer Hand gegenüber. Als sie bei sich selbst fertig war, fuhr sie, ohne zu zögern, mit dem Pinsel ganz leicht über Olivers kleinen Fingernagel. Sie wartete einen Moment ab, und als die Hand des Jungen mit gespreizten Fingern auf der Tischdecke liegen blieb, machte sie weiter.

Oliver lächelte und wedelte sich mit der Hand vorm Gesicht herum, wie er es immer bei ihr gesehen hatte. In seinen Fingern spürte er unvermutete Energie, als ob sie schwerer wären und viel kräftiger. Vor dem Spiegel an der Innenseite der Tür von Emílias Schrank aus massivem Nussbaumholz legte er sich die Finger aufs Gesicht wie Greta Garbo in ihrem Lieblingsfilm.

Im Schrank roch es nach Parfüm und Mottenkugeln. In einer Schachtel im untersten Fach hatte Emília säuberlich ihre Sammlung von Tüchern verstaut. Sie leuchteten in allen Farben, Oliver hatte die größte Lust, sie zu einer riesigen Seidendecke zusammenzunähen und das allerschönste Zirkuszelt der Welt zu erschaffen.

„Und welches gefällt dir am besten?“, fragte Emília.

Oliver zeigte auf ein weißes Satintuch mit himmelblauem Rand, übersät mit Dutzenden farbigen Punkten in der Größe von Pingpongbällen. Emília band ihm das Tuch um den Hals.

„Das ist ein französischer Knoten, sehr elegant, was meinst du?“

 

Als Oliver nach Hause kam, war sein Vater gerade mit dem Workout fertig und lag noch keuchend auf seiner Hantelbank.

„Was hast du denn da bitte um den Hals? Mach das ab, versuch doch einfach mal, wenigstens ein bisschen normal zu sein.“ Mit einer heftigen Bewegung schnappte er sich das Handtuch, das über den Whirlpoolrand hing, und wischte sich das Gesicht ab. „Ich hab echt viel um die Ohren, ich hab keine Lust, mich auch noch mit so was zu beschäftigen. Soll ich dir jetzt vielleicht Damenunterwäsche kaufen?“

Oliver ballte die rechte Hand zur Faust, damit sein Vater die lackierten Fingernägel nicht sehen konnte. Mit der anderen Hand zog er sich langsam das Tuch vom Hals und verschwand in seinem Zimmer, bevor sein Vater ihm das Tuch abnehmen konnte. Klar wollte er normal sein, er wollte, dass ihn alle mochten, dass sie lachten, wenn er einen Witz machte, und interessiert zuhörten, wenn er ihnen erzählte, was er gelesen hatte. Er begriff bloß nicht, was das mit dem bunten Tuch zu tun hatte, das mit einem französischen Knoten um seinen Hals gebunden war.

Am nächsten Tag gab er es Emília zurück und sagte, er wolle es nicht mehr haben. Sein Mund verzog sich, er wehrte sich mit allen Kräften dagegen, loszuheulen. Emília schlug ihm vor, das Tuch nicht wieder in den Schrank zurückzulegen, sondern es als Standarte zu verwenden. So wie am Präsidialpalast. Sobald Oliver in seiner Bude im Garten wäre, würden sie die Standarte hissen, sobald er nach Hause ginge, würden sie sie einholen. Damit alle Bescheid wüssten, ob er in seiner Residenz weilte und Audienzen geben konnte. Und wenn das kein Tuch mehr wäre, sondern eine Standarte, dann hätte auch sein Vater garantiert kein Problem mehr damit.

„Manchmal reicht es aus, wenn man das Wort ändert, mit dem man etwas bezeichnet, und auf einen Schlag ist das Ganze vollkommen unverfänglich.“ Sie zupfte eine kleine Margarite ab und steckte sie sich hinters Ohr. „Und Unkraut ist kein Unkraut mehr, sondern eine wunderschöne Blüte.“

Seit jenem Tag flatterte die Standarte, mit einem Bindfaden am Blitzableiter befestigt, über Olivers Bude, und abends holten sie sie feierlich ein.

 

 

 

© Übersetzung aus dem Slowakischen: Mirko Kraetsch, 2023

Kein Teil dieses Auszuges darf in keiner Form und auf keine Weise weder reproduziert noch verbreitet werden.