SAMMLERIN DER SEELEN

Sainap sucht fremde Seelen, Soldaten gegen den Krieg sammelt sie, Soldaten ohne Kalaschnikow, nicht tote Seelen, lebendige will sie, solche mit Riss. Sie ist es, die sie einreißt, mit dem durchschossenen Körper ihres Volkes, den sie durch die westlichen Städte des Friedens trägt, Fotos der abgerissenen Glieder, der verkohlten Leichname zeigt und erwartungsvoll lächelt. Wenn die glatte Seele einreißt und sich für eine Weile dem Kaukasus zuwendet, freut sich Sainap. Sie nennt es Freunde sammeln an der Westfront. Wenn Sainap es schafft, die fremde Seele vom Frieden weg in die tschetschenischen Ruinen zu führen, ist ihre Arbeit vollendet, sie wird nichts mehr tun müssen, nur von der Seite schaudernd zuschauen, wie die Seele all das einsaugt, was Sainap schon das siebte Jahr in sich trägt, und wie sie von all dem eingesaugt wird. Dann wird Sainap die Seele umarmen und weiter gehen. Für diesen Kampf braucht es viele Seelen. Sainap darf nicht ruhen.

Am Morgen aufspringen, die Haare nach hinten binden, den langen Rock mit den Handflächen über den Schenkeln glätten, auf den Mann nicht hören, das nütze alles nichts, sie solle ihre Kreise in der Familie drehen, er werde sie verlassen, solch eine Frau bringe ihrem Mann Unglück. Es ist aus mit dieser Stimme. Sainap hört andere Rufe, die Schreie der Zerfetzten im Pfeifen der Geschosse. Das ist ihre Moral und ihre Familie. Sainap fliegt wie ein Granatsplitter, wie Hunderttausende von Granatsplittern, bohrt sie sich in neue Körper hinein, wandert unter der Haut. (...)

Manchmal denkt Sainap, dass sie mehr gesehen hat als Gott sich ausdenken kann. Sie will nicht, dass der Erhabene dorthin hinabgezerrt wird, wo sich Fäkalien mit Blut vermischen, weil Pflöcke in die Gefolterten gestoßen werden, dort könnte er den Glauben an sich selbst verlieren. Gott muss nicht wissen, wie Menschenteile auseinander fliegen, aber einen Teil der zerrissenen Wahrheit soll er kennen lernen, davor will ihn Sainap nicht bewahren. Diese Kraft soll er schon aufbringen. Manchmal zeigt sie Gott ihre Kriegsalben. Die geschändeten Leichen in den Massengräbern stanken so, dass sich Sainap übergeben musste, als sie sie fotografierte. Und wenn sie die Fotos über die Konferenztische reicht, ist der Gestank wieder in ihr, und Sainap fürchtet die Fassung zu verlieren, aber sie weint nicht vor fremden Menschen, sie musste schon immer für sich einstehen. Der Krieg ist Arbeit mit Gestank, und Sainap macht ihre Arbeit. Der säuerliche Gestank, der aus dem Leichnam ihres Volkes entweicht, begleitet sie schon durch zwei Kriege, und falls Gott ihrem Volk einen dritten Krieg erlässt, verspricht sie, glücklich zu werden. Sie will damit Gott eine Freude machen und ihn in ihre Arbeit einbinden. (...)

Sainap braucht nicht die Welt, die sie vorfindet, sie braucht eine Welt, die sich erschüttern lässt. In die westliche Welt bringt sie Beweise der Zerstörung, in die östliche bringt sie Mehl, Öl, Salz und etwas Zucker. Sie begegnet ihrem Volk als dem sich verbeugenden Empfänger der humanitären Hilfe. Trifft sie Würde an, wünscht sie sich, davon an den runden Tischen im Westen zu erzählen, aber man fragt sie nach Namen, Zahlen und nach der Art der Verbrechen. Ein wenig Mehl für viel Elend, das gibt man ihr schon. Sie hofft auf Verbindlichkeit für viel Selbstachtung.

In ihrem Hotelzimmer steht auf der Kommode eine aufgerichtete schlanke Plastik-Hand, die auf den Schmuck einer Frau wartet. Sainap sieht wieder und wieder den Markt von Grosny am 21. Oktober 1999, als dort die Raketen einschlugen, jede mit einem 480 Kilogramm schweren Sprengkopf, der sich über den Marktfrauen öffnete und sie mit einem Metallregen niederdrückte. Sainap rannte damals mit ihrer Videokamera über blutige Hände, Beine, Haarbüschel, die ihr Zentrum verloren hatten. Nun steht vor ihr auch so eine Hand, diesmal als Zierde. Sainap schaut sich ihre eigene Hand an, ob sie nicht abgerissen sei. Sie weint und tröstet sich: In Tschetschenien weine ich nicht, weil es sich nicht gehört, in Russland weine ich nicht, weil der Stolz es nicht gestattet, also warum nicht hier, wo mich niemand sieht?  (...)

Wenn Sainap nicht alte Menschen aus brennenden Trümmern herauszieht, verwirrte Kinder in einen minenfreien Wald mitnimmt und Freude an ihrer Freude hat, wenn sie im Westen nicht vom Lächeln des in die Wirbelsäule getroffenen Knaben erzählt, dem sie einen Rollstuhl nach Grosny bringt, dann weiß Sainap nicht, mit welchem Recht sie auf der Welt sein sollte. Hat der Krieg solch eine Kraft, dass er Sainap auslöscht, damit sie sein Medium werde? Manchmal öffnet sich ein großes Tor in ihrer Brust, und sie atmet ruhig ein. Ich lebe, ich lebe, immer noch, denkt sie in Ehrfurcht. Sie sieht in ihrem Kopf weiterhin Raketen niedergehen, aber der Ton ist weg. Es ist still in ihr. Das ist Allah, der zu mir spricht, sagt sie. Du liebst mich also, ich werde dich schon nicht enttäuschen, ich werde noch mehr arbeiten. Wir werden ein wunderschönes Tschetschenien haben, ein freies Itschkeria, Du wirst sehen. Am Liebsten würde sie Gott sagen, er solle dann zu ihnen kommen, aber sie besinnt sich, dass er wohl schon dort sei - und seufzt.