Offenbarung in Klaipeda

(Auszug)

Dem Bruder von Rosario Dalton erschien die Jungfrau Maria zum ersten Mal, als er acht  war. Rosario war ein Jahr jünger und beide wohnten in der Familie einer alten Frau. Ihre Mutter hatten sie nie gekannt und den Vater trafen sie nur selten, da er in der Hauptstadt arbeitete, um jeden Monat Geld für ihre Erziehung schicken zu können. Der Bruder von Rosario ging Morgen für Morgen Zeitungen verkaufen. Noch im Dunkel holte er in dem Verlag sein Zeitungspacket ab und folgte seiner täglichen Strecke durch die Stadt, durch die steilen Gassen hinauf, wo man den Blick auf die Kirche und die sich dahinter erstreckende Berge werfen konnte, dann runter, zurück zum Verlag.  Die Menschen kauften sich seine Zeitungen aus Mitleid, die Wächter ließen ihn auch in die Banken und Büros rein, wohin die Kolporteure üblicherweise nicht durften, und wo ihn alle kannten und ihm ein Paar Münzen mehr gaben, die er für süße Brötchen mit Marmelade ausgab. Aber unter den Kindern gab es Konkurrenz, sie stahlen sich die Zeitungen gegenseitig, und es passierte, daß ihm gleich in dem Park hinter dem Verlag, wenn er das mit einer dicken Schnur verschnürtes Packet auf der Mauer liegen ließ und weglief, um eine auf dem Rasen Fußball spielende Gruppe zu beobachten, alle Zeitungen gestohlen wurden und die Frau, die ihn erzog, den Tageserlös aus dem Geld ihres Vaters bezahlen musste. Wenn er die ganze Stadt durchging, brachte er die übriggebliebenen Zeitungsausgaben in den Verlag zurück und ging nach Hause, um Rosario abzuholen. Wenn sie in die Schule gingen, machten sie immer einen Umweg durch den Park, wo sich der Bruder von Rosario den Fußballspielern anschloß. „Heeej, concha de tu madre!“, schrien sie, wenn er faulte, aus dem trockenen Gras ausfstand und zornig ausspuckte. Und dann mussten sie bis zum Abend zu hause hinter den verzogenen Vorhängen sitzen und für den folgenden Tag lernen.  

Als ob die Jungfrau Maria auf eine passende Gelegenheit wartete, nützte sie einen Nachmittag aus, als Rosario länger in der Schule blieb und ihr Bruder alleine in dem dunklen Zimmer,  an das alte Tischbein stoßend, saß, wenn sie erschien, konventionell angekleidet,  wie sie jedes kleines Kind erwarten würde: ein bleiches Gewand, ein weißes Tuch über die Schulter umgeworfen, mit einem Schleier auf den blaßen Haaren.  Der Bruder von Rosario Dalton war kaum überrascht. Die Jungfrau Maria war ein Teil seiner Welt. Er traf sie täglich in den Kapellen, die auf jedem Schritt zu finden waren. Er wußte aber nie, wie er sich im Augenblick eines Treffens verhalten, wie er begrüßen, was er sagen sollte. Er fragte mehrmals, was die Kinder sagten, denen die Jungfrau Maria erschienen war und deren Geschichten sie in den Religionsstunden und im Katechismus lernten, aber er wurde immer zurechtgewiesen, da es gehorsame und fromme Kinder waren, die wussten, was zu machen ist. Sie lernten, wie man sich dem Papst gegenüber verhalten soll und wenn der Erzbischof in die Stadt kommen sollte, um eine festliche Sontagsmesse zu halten, mussten sie die aussergewöhnliche Bibelstunden täglich nach dem Unterricht besuchen, um das ganze Kodex der Zeremonie, alle Regeln des Verhaltens in des Erzbischofs Anwesenheit, zu lernen. Aber über das Verhalten im Fall eines Treffens mit der Jungfrau Maria hat er nie etwas erfahren.

Der Bruder von Rosario Dalton sah die lächelnde Jungfrau Maria an und als ob auch sie wartete, daß er als erstes etwas sagt, stand sie vor ihm sprachlos und ohne Bewegung. Und plötzlich fiel ihm ein, daß er jetzt eine einzigartige Möglichkeit hat (mindestens damals glaubte er es), eine Möglichkeit zu erfahren, was ihn am meisten interessierte. Die Lust, das Geheimnis zu erfahren, das ihn nicht ruhig ließ, überwog seine Scheu und Verehrung. „Jungfrau Maria, die Mutter des Gottes, werde ich ein bekannter Fußballspieler?“ fragte er endlich, wenn die Stille zu lange dauerte. Und die Jungfrau Maria lächelte noch mehr, beugte sich zum Bruder von Rosario Dalton, als ob sie sich neben ihn zum Tisch setzten wollte, und brachte ihm bei, genau und schnell,  ein Paar Regeln und Kniffe: wie sich dem Ball nähern, unter welchem Winkel stoßen, damit der Ball eine unerwartete Richtung aufnimmt, in einem Bogen den Spielplatz umfliegt und im Tor endet. Der Bruder von Rosario Dalton wandte den Blick für keine Weile vom Hefte ab, wo die Jungfrau Maria, der Bleistift in den schlanken, durchsichtigen Fingern, die Bahn des Balles, der Spieler und des Bruders von Rosario Dalton selbst einzeichnete. Er stellte keine Fragen und sie fragte nicht ob er alles verstand, nur wenn sie fertig war, streichelte sie sein Haar und der Bruder von Rosario Dalton hat sich erst jetzt bekreuzigt, kniete nieder, küsste sanft den Rand des blaßen Schleiers, der von den Schulter der Jungfrau Maria auf den Holzboden fiel, so, wie die alten Frauen in der Kirche den Ring vom Erzbischopf küssten. Dann löste sich die Jungfrau Maria in der Luft auf, unauffällig und leise, und der Bruder von Rosario Dalton beeilte sich gleich am nächsten Morgen in den Park, wo man Fußball spielte. Er vergaß die Vorsichtigkeit, warf das Zeitungspacket auf den Rasen, zog sich die Schuhe aus, weil er immer barfuß spielte, schloß sich der spielenden Gruppe an und seit diesem Tag hat er den Spielplatz kaum verlassen.  

Dank dem Fußball gelangte er in die Hauptstadt und ein Paar Jahre später war er einer der vielversprechendsten Spieler. Der Bruder von Rosario Dalton erzählte die Geschichte mit der Jungfrau Maria niemandem. Es schien ihm, daß sie eine Vereinbarung geschlossen hatte, daß sie ihm den Traum erfüllte und er ihr versprach,  daß die Nachricht über die Offenbarung der Jungfrau Maria nicht das ganze Land und dann die ganze Welt durchziehen und keine Aufregung erzeugen wird. Und er musste eingestehen, daß er mit den Jahren selbst begann, sie zu vergessen und  zu glauben, daß es sich um einen Traum handelte, wenn er im warmen, ungelüfteten Raum schlummerte, oder daß es ihm, einem kleinen, durch heilige Bilder, Kapellen, staubige Statuetten mit flackernden Kettchen, Messen und Prozessionen umgegebenen kleinen Jungen, nur schien. Und dann, wenn er es am wenigsten erwartete, began die Jungfrau Maria, ihm immer wieder zu erscheinen. Sie kam wie ein epileptischer Anfall, von einem glänzenden Unbehagen angekündigt, von einer warmen Aura. Zuerst wurde der Rand des hellen Schleiers sichtbar, dann das rosige Gesicht, und die vor dem Körper gefalteten  Hände. Nie wieder wartete sie auf einen Angeblick, wenn er alleine blieb, und so hatte er nie wieder die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen.  Im Gegenteil schien es ihm, daß sie sich absichtlich die unpassendsten Momente auswählte. Sie stand vor dem Tor, wenn er den Treffer stieß, und als die Sonne von vorne schien, warf das Netz des Tores einen Schatten auf ihr Gesicht und sie kräuselte sich wie in einem Fischernetz gefangen und lächelte den Bruder von Rosario Dalton an. Dann schaute sie dem Schiedsrichter über die Schulter, bei der Medaillenübergabe reichte sie ihm als erste die Hand, als der Wachengel bewegte sie sich vor der Gattin seines Mitspielers in der Nacht, wo er sie zum ersten Mal verführen wollte. Sie blieb nie lange und sprach kein Wort, aber nach einer Weile hatte er vor ihr Angst, sie machte ihn müde, er fühlte sich durch ihre Unvorhersagbarkeit gehetzt. Er wollte ihr drohen, mit einer Geste andeuten, daß sie verschwinden soll, sie wegtreiben, oder ihr winken,  damit sie ihm in die Garderobe folgte, irgendwo, wo sie alleine wären und wo sie ihm, wie er hoffte, ihre Verfolgung erklären konnte. Aber es gab immer so viele Leute herum, daß er nichts tun konnte, da sie niemand anders sah und er Angst hatte, daß sie ihn in einen Irrenanstalt schließen, wenn er vor einem leeren Raum gestikulieren wird. Auch wenn er zu den besten und reichsten Fußballspielern im Land zählte, entschied er sich, aufzuhören. Irgendwie glaubte er, daß die Jungfrau Maria mit dem Fußball verbunden ist und wenn er vom Spielfeld und aus dem Land wegläuft, wird sie ihn für immer in Ruhe lassen.  

An dem Tag, als er den Klub zum letzten Mal verließ, versammelte sich vor dem Klubgebäude eine Menschenmenge. „Verräter! Verräter!“ skandierten manche und warfen  ihm Hände voll vom Schotter aus dem Zufahrtsweg zu, weil sie glaubten, daß er es sein wird, der die Manschaft des Landes auf die Beine stellt. Andere, vor allem junge, hinter der das Klubareal umzäunenden Linie stehende Mädchen, pfiffen, riefen seinen Namen und warfen ihm Plüschtiere zu, eine hielt ihm seinen Schulter hin und er sah, wie sie den Ärmel ihren engen T-Schirt aufschlug und auf der Haut sein in Farbe tätowiertes Bildnis hatte. Kleine Buben, die unter der Absperrung durch krochen, drängten sich zu ihm mit Papierfetzen und fragten nach Autogrammen. Beim Ausgang, wo ihn ein Taxi erwartete, da ihm seit gestern kein Klubauto zur Verfügung stand, gab es eine Gruppe von Journalisten, die eine Erklärung verlangten.  Schon seit  Tagen erschienen in der Presse Artikel, die über eine angebliche Liebesaffäre zwischen dem Bruder von Rosario Dalton und der Gattin eines seiner Mitspieler berichteten und man glaubte, daß hier ein Verbrechen aus Leidenschaft  droht, auch wenn dies von allen Beteiligten bestritten wurde. Erst als die Journalisten herausfanden, daß der Bruder von Rosario Dalton am folgenden Tag nach Miami fliegt, wurde allen plötzlich klar, daß ihm ein ausländischer Klub einen Vertrag angeboten hatte und so ist in der Nacht vom Opfer der Gefühle ein Verräter geworden, dem der heimische Ruhm und der heimische Reichtum nicht genügten. Der Bruder von Rosario Dalton hatte niemandem etwas erklärt. Er wusste, daß er alles verlieren würde, aber er war entschlossen, nie wieder zum Fußball zurückzukehren.

Robert de Schazer ging zu Starbucks.

Boston ist in zwei Lager geteilt: in Starbuck und Same Day Coffee. Starbucks bildet sich etwas auf seinen Ruf eines pseudo-europäischen Kaffee ein, mit bequemen Sesseln und ethno Musik aus Sony Lautsprechern. Ethno Musik, weil keiner der Besucher bestreiten würde, daß er die Welt erregend findet. Auf verschiedenste Arten kann man dieser Erregung Ausdruck verleihen: auf die ungestrichenen Wände einer Studentenbude Photos aus Kenia kleben, in die obere Ecke einen Krepp-Sonnenschirm aufhängen, über das Bett ein gelbes Tuch mit eingewobenen Zitaten in Sanskrit anstecken. Im  Starbuck dürfen sie, gut situiert, mit geöffneten Notebooks auf dem Schoß gemütlich sitzend,  beliebig lang bleiben, und den süßen Kaffee aus den hohen, mit durchsichtigen Plastikhütchen bedeckten Bechern schlürfen, in denen bunt geschmückte Strohhalme stecken. Das typische Klientel  sind Reisende in die Länder, die in Lonely Planet beschrieben werden. Same Day Coffee ist eine Starbuckopposition. Hierher kommen diejenigen, die in der Stadt herumstreichen und die Aushänge „Help Wanted“ in den Restaurant-Auslagen und Straßenständen suchen und in der Zeitung Metro, der bostoner Tageszeitung, die umsonst ist, und deren frische Ausgaben Morgen für Morgen auf den Sitzbänken  der U-Bahnen herumliegen oder die man bei den Eingängen aus Plastikständern nehmen kann.

Robert de Shazer ging zu Starbucks. Er ging hin, um seine Gedanken nach der Arbeit an dem Artikel „Religiöse Rituale in der Großstadt“ zu sammeln. Er hatte sich einer Freikirche angeschlossen, die in einem schäbigen Haus Bibelstunden für Immigranten organisierte. Der Prediger war ein strenger Weißer, der in langen, mehrstündigen Predigten seinen Zuhörern ein kompromissloses Einhalten von  Geboten und tägliches Lesen der Heiligen Schrift ans Herz legte.  Nach der Predigt wurden von  seinen Helfern Liedertexte auf Folien gezeigt. Die treuen, in den ersten Reihen sitzenden Kirchenmitglieder standen jetzt auf, fuchtelten mit den Händen und sangen mit geschlossenen Augen und ein  Orchester  von hispanischen Musikern begleitete sie lächelnd auf Gitarre und Becken. Die Mitglieder der Freikirche wollten vor allem  illegale  Arbeiter anlocken, die Predigten wurden ins Spanische übersetzt, und am Sonntag nach dem Hauptgottesdienst wurden kostenlose Sprachkurse und Verpflegung angeboten. Einmal  nahmen ihn nepalesische Emigranten in eine Wohnung zu einer hinduistischen Zeremonie mit, wo er stundenlang auf dem nur von einem dünnen Teppich bedeckten Parkettboden kniete, sodass ihm noch einige Tage danach die Knie weh taten.  Er schloß sich einer brasilianischen Gemeinde an, die sich Freitag abends versammelte, und während die Erwachsenen dem in ein grünes Gewand gekleideten, auf portugiesisch predigenden Pastor zuhörten, gab es in dem nebenstehenden Raum einen Kindergarten, wo die Kinder das Programm für das Sonntags-Treffen übten.  „Go in peace, serve the Lord!“ rief der Pastor seiner Gemeinde nach dem letzten Lied zu, wenn er nach der letzten Strophe vom Altar durch die Kirche zum Ausgang ging, und sich zu der Menschenmenge umdrehte, „Aaa-mee-n“, antwortete die festliche Versammlung feierlich, die Leute bekreuzigten sich, standen aus den schäbigen Stühlen auf und schüttelten am Ausgang dem Pastor die Hand.

Übersetzt von Svetlana Žuchová